Die Haut

 

 

Ein sehr großer heller Raum. Die Türklinke wird langsam nach unten gedrückt. Dann wird die hohe Tür aufgestoßen. Ein Mädchen macht einen Schritt herein. Rote im Sonnenlicht schimmernde Locken bedecken schmale Kinderschultern.

Schließe die Tür. Sagt die Frau und dreht sich nicht um.

Das Mädchen schließt die Tür. Und steht. Und schweigt. Es beobachtet die Frau.

Die Frau kniet vor der gegenüberliegenden Wand. Ein weißer Kittel bedeckt ihren nach vorn gebeugten Rücken.

Die Wand vor der die Frau kniet ist gelb gestrichen. Viel von der Farbe ist abgeblättert. An manchen Stellen hat sich zusätzlich der Verputz gelöst.

Die Frau kniet vor ihrer Wand. Neben sich hat die Frau einen großen Eimer stehen. Mit einem breiten Spachtel hebt sie eine milchfarbene teigige Masse aus dem Eimer und verstreicht sie mit gleichmäßigen mit geübten Handgriffen auf der Wand. Die Frau überspachtelt die Wand.

Gleich. Sagt die Frau. Gleich bin ich fertig.

Ich weiß. Sagt das Mädchen.

Und es bückt sich und zieht sich die weißen Söckchen hoch.

Mit dem Handrücken wischt sich die Frau eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Setzt den Spachtel noch einmal an der Wand an und mit einer kräftigen Bewegung zieht sie das Handwerksgerät nach unten.

Das Mädchen schluckt.

Und spricht dann. Nie wirst du wirklich fertig werden. Noch nie bist du ganz fertig geworden. Das Haus hat so viele Zimmer. Du wirst immer grauer und krummer. Und deine Haut. Sieh deine Haut an den Händen. Sieh deine Haut an den Fingerkuppen. Rissig ist sie. Aufgesprungen ist sie. Und wie es hier riecht. Diese Dämpfe. Das Fenster steht offen und doch riecht es hier so stark. Es soll auch in dir sein. Nicht wahr. Atmend und arbeitend holst du es in dich hinein. Nicht wahr. Und ich soll zusehen.

 

Da hält die Frau inne. Streckt ihren Rücken. Dreht den oberen Körper. Aber bleibt auf den Knien. Hebt den Kopf. Zögert.

Und spricht dann. Jung bist du. Und roh noch bist du. Roh wie es diese Wand am Anfang einmal war. Wie es das ganze Zimmer schon einmal war. Wie überhaupt das gesamte Haus aus Rohem entstanden ist. Du wirst älter werden. Und das Rohe in dir wird zugedeckt werden. Du selber wirst es zudecken. Und du wirst es zudecken lassen. In dir wird das Rohe immer verdeckter werden. Und immer brüchiger wird es in dir werden. Und mit den Jahren mit dem Älter werden wird es in dir zu zerfallen beginnen. Wird sich aufzulösen beginnen. Aber nicht ganz. Nie ganz. Nie wird es ganz in dir verschwinden. Und dann mit deinem Tod dann wird es herausbrechen. Hervorquellen. Herausbersten. Was weiß ich wie dein Rohes aussieht. Hah. Es ist nicht zu töten. Roh wird dein Ende sein. Roh und rührselig. Hässlich und elendig. Und deshalb auch müssen wir es immerzu zudecken. Solange wir können ist es an uns das zu tun. Komm her. Immer glänzen deine Lackschuhe so schön. Lackschuhe müssen nie geputzt werden.

 

Die Frau stützt sich mit einer Hand ab. Erhebt sich schwerfällig. Geht an das geöffnete Fenster.

Komm. Komm her. Sagt sie.

Das Mädchen presst die Lippen. Zieht an dem kurzen Sommerkleid.

Senkt den Kopf. Und geht mit festen Schritten über den Holzfußboden zum Fenster. Zwei Flügel sind weit geöffnet. Aus dem Fenster ist etwas gehängt worden. Drei riesige Haken sind in die Fensterbank gebohrt worden und halten Gerafftes Stoffähnliches.

Ja. Sieh. Sagt die Frau und streicht ihr über das Haar. Du weißt was hier aus dem Fenster hängt.

Das Mädchen nickt. Und blickt zur Frau hoch.

Warum. Sagt das Mädchen. Warum musstest du es wieder aus dem Fenster hängen.

Alle sollen es sehen.

Das Mädchen starrt auf die drei großen Haken. Daran hängt die abgezogene Haut. Es ist die abgezogene Haut des Fußbodens auf dem sie stehen. Die Rillen des Holzes haben sich deutlich in den Kautschuk übertragen.

 

Monatelang waren sie wieder durch die Gegend gefahren. Auf der Suche nach einem weiteren Haus. Nach einem Haus das nicht mehr bewohnt wurde. Ein altes herrschaftliches Haus sollte es sein. Ein Haus mit Parkettböden und hohen Räumen. Dann hatten sie dieses hier gefunden.

Die Frau war damals durch alle Geschoße gestreift. Hatte alle Wände befühlt. Und nüchtern und bedächtig hatte sie mit dem Besitzer gesprochen. Hatte mit ihm verhandelt und ihm versichert und beteuert. Und dann als alles geklärt war und er gegangen war war ihr der Schweiß ausgebrochen. Hut und Kostümjacke hatte sie von sich geworfen und die Schuhe hatte sie abgestreift und hatte die fein bestrumpften Füße über das Parkett geschoben. War mit den schweißnassen Händen über die Wände gefahren und ein wenig Putz war nach unten gerieselt und sie war mit den Fingern über die raue Fläche gegangen und hatte die heißen Handinnenflächen gegen die Wände gedrückt und hatte geseufzt.

Und das Mädchen stand damals da wie es schon so oft gestanden hatte. Und sah. Und wusste um das Kommende.

Am nächsten Tag schleppten sie die Eimer mit flüssigem Gummi in das Haus. Und die Kiste mit Spachteln und Kellen und Pinseln stellten sie daneben.

Dann ging das Mädchen. Es hatte nun zu gehen. Immer hatte es dann zu gehen. Und es wollte auch gehen.

Und die Frau begann.

Die Frau begann eine Wand einzupinseln. Brachte behutsam eine erste Grundierung auf. Behutsam damit sich der poröse Verputz nicht löste.

Und Tag für Tag und Schicht für Schicht bekam die Wand ihre neue Haut. Bekam die Wand ihre Gummihaut.

Und morgens und abends saßen die Frau und das Mädchen zusammen und aßen und sprachen. Die Frau blickte dem Mädchen in die großen grünen Augen und fragte und antwortete.

 

Kind und Frau stehen immer noch am Fenster.

Die Frau fasst nach dem mittlerem Haken im Fensterbrett und scheint sich zu stützen und blickt durch das Fenster hinaus und sagt. An der ersten Wand ist alles durch und durch getrocknet. Wir können beginnen ihr die Haut abziehen.

Ja. Ja. Sagt das Kind und nickt.

Nie kann die Frau dies alleine tun. Soweit es zurückdenken kann muss es dazu kommen.

Schnellen Schrittes geht nun die Frau zu einer hohen Leiter und steigt hinauf. Und mit einem scharfen Messer und mit dem schmalsten Spachtel und mit Daumen und Ringfinger beginnt die Frau oben im Eck die Kautschukhaut von der Wand zu lösen.

Das Mädchen stellt sich neben die Leiter und blickt hoch und wartet.

Dann als immer mehr Haut herunterhängt als die Haut den Boden berührt steigt die Frau von der Leiter und nimmt die wulstige Kante hoch. Der Gummi darf nicht einreißen. Darf keinen Schaden erleiden. Und das Mädchen streckt nun seine Arme vor. Und die Frau legt vorsichtig den schon abgezogenen oberen Teil des getrockneten Kautschuks über die Kinderarme.

Und schneller macht die Frau weiter. Steht jetzt auf dem Parkettboden und zieht die Schichten unten an der Wand ab und legt sie dem Kind auf. Und immer schwerer immer mehr sich überlappend immer ungetümer liegt die Haut in den dünnen Armen.

Da ruft die Frau. Gleich. Gleich haben wir es geschafft. Ein wenig noch. Ein wenig noch halte durch.

Und das Mädchen hört den Spachtel über die Wand kratzen. Der Spachtel mit dem nun die Haut dort wo sie zu fest klebt wieder gelöst werden muss. Und das Mädchen hört Putzkrümel auf den Boden rieseln und hört die Frau schwer und heftig atmen.

Irgendwann ist es getan.

Das Mädchen fühlt den Schmerz in den Armen und die Frau nimmt ihr die Last ab und legt sie auf den Boden und die Arme des Mädchens sind gerötet und die Augen der Frau strahlen.

Später werden sie die Haut nach unten tragen und im Garten drapieren. Und an einem Abend werden viele Leute kommen und es wird Sekt und Saft geben und einer wird laut und lang von Haut und Welt und innen und außen reden.

Jetzt aber sagt die Frau zum Kind.

Komm. Bewege deine Arme. Bringe das Blut wieder in Fluss. Heute will ich dir die Haut umhängen.

Nein. Sagt das Kind.

Doch. Sagt die Frau.

Es ist hässlich. Es stinkt. Sagt das Kind.

Wie eine Schleppe werde ich dir die Haut über die Schultern hängen. Sagt die Frau.

Mit seinen großen grünen Augen blickt das Kind nicht die Frau an. Blickt zur Tür hin. Und stellt sich in die Mitte des Zimmers und erwartet die Schleppe.

Mit einem kräftigen Griff packt die Frau den Gummi an einem Ende hebt ihn hoch und beginnt ihn in den Händen zusammenzuraffen. Nirgends gibt es sichtbare Risse. Nicht einmal dort wo es beim Abschaben mit dem Spachtel zu kleinen Verletzungen gekommen sein muss.

Die Frau hat den Gummi in große bewegliche Falten geordnet. Und legt ihn dem Mädchen über die Schultern und lässt das Kind die beiden Enden vor seiner Brust in die Hände nehmen. Und dann legt die Frau die Haut als eine lange Schleppe in einem Bogen hinter das Kind. Holt schließlich die roten Locken unter dem grauen Rand hervor und lässt das üppige Rot über den Wulst fallen. Und tritt beiseite und betrachtet ihr Werk.

Das Kind steht da und die Schwere des Umhangs drückt seine Schultern nach vorne.

Mein Kind. Flüstert die Frau. Mein Kind. Mein immer noch kleines Kind.

Das Mädchen zuckt. Und fest stampft es mit dem rechten Lackschuh auf den Parkett. Biegt die Schultern nach hinten und sagt.

Nie. Nie werde ich alt werden. Und ich werde nicht sterben. Ich werde besitzen. Ich werde das Rohe besitzen. Und werde es pflegen und polieren.

Hörst du.

Ach mein Kind. Schüttelt die Frau den Kopf.

Du hörst mich. Sagt das Kind. Alle werden eines Tages alt sein. Aber ich. Ich werde nicht alt werden. Ich nicht. Ich werde das Rohe besitzen.

 

Längst ist die Frau gestorben.

Und die Erwachsene drückt die Türklinke langsam nach unten und betritt ihren Dachboden. Hier sind alle Häute gelagert.

Aschgrau und porös sind die Häute geworden. Überall Risse und Löcher. Hochgehoben knistern sie und drohen weiter zu zerbrechen. Beim Abholen werden sie in viele Teile zerfallen.

 

Gestern hat sie in ihrem Garten an einer großen Grube mitgegraben. Am Nachmittag werden die Häute nach unten getragen. Und am Abend dann werden viele Leute kommen und es wird Sekt und Saft geben und sie wird am Rande der Grube stehen und lang und laut reden von Haut und Welt und von außen und innen.