In dem niedrigen roten Backsteinhaus vor dem Deich wohnen mehrere Generationen.
Es gibt drei Eingänge. Einen Vordereingang für Besuch, diese Tür ist immer abgeschlossen. Und zwei Hintereingänge. Ich betrete das Haus durch einen der Hintereingänge. Ich rieche und spüre, wie feucht, kalt und dunkel es im Achterhuus ist. Unten am Boden neben der Tür stehen ein Paar Holzschuhe. Ein niedriges Fensterchen über einem Waschbecken lässt wenig Licht herein. Auf der hölzernen Klappe der Zysterne steht eine Wasserkanne aus verblichenem grünen Plastik.
Ich gehe ein paar Schritte in den Raum hinein. Meine Füße spüren die groben Steine, aus denen der Boden hier gesetzt ist. Jeden Freitag werden sie gefegt.
An der linken Wand stehen zwei hohe graue Steingutpötte. Im ersten sind Schnippelbohnen in Salz eingelegt, im zweiten gärt Sauerkraut. Die Deckel liegen in einer mit Wasser gefüllten Rinne. So ist das Gefäß luftdicht verschlossen. Ganz selten nur wird hier Wasser nachgegossen. In der Kälte verdunstet wenig.
Von diesem Raum gehen mehrere Türen ab. Hinter einer Tür sind in einer fensterlosen Kammer Briketts gestapelt. Die Wände sind schwarz davon. Dieser fensterlose Raum liegt in der Mitte des Hauses. Ein Kamin geht schräg durch diese Kammer. Der abziehende Rauch erwärmt sie gleichmäßig. Von der niedrigen Decke hängen unterschiedlich lange Würste, zwei ganze Schinken und mehrere Seiten Speck zum Trocknen.
Ich gehe durch eine andere Tür und trete in die Schlafkammer der Urgroßeltern. Ein altes Bett steht vor dem tief liegenden Fenster. Hier ist die schräge Decke so niedrig, dass ich nicht mehr aufrecht stehen kann. Über der Tür hängt eine Fotographie in einem einfachen dunklen Holzrahmen. Sie zeigt das Hochzeitspaar in Schwarz. Der Raum kann nicht beheizt werden.
Ich gehe zurück in den Flur. Dieser Flur ist schmal und dunkel. Licht fällt nur durch die kleine Milchglasscheibe der Vordertür. Diese bleibt immer abgeschlossen. Vom Flur gehen fünf Türen ab. Ich gehe auf die nächste zu und steige drei Stufen hoch zum ersten Vorderzimmer.
Ich öffne die Tür. Warme feuchte Luft schlägt mir entgegen. Luft, die nach alten Leuten riecht. Auf dem blankgeputzten weiß gekachelten Küchenofen steht ein großer glänzender Wasserkessel. In dessen Öffnung liegt eine ebenso glänzende Teekanne. Dampf steigt aus beiden Hälsen auf. Über dem Ofen hängen, auf Schnüren aufgefädelt, Bohnen zum Trocknen. Unter dem Ofen liegt Holz. Daneben steht ein Eimer mit Briketts. Eine greise Frau sitzt auf einem Stuhl dicht am Ofen. Sie trägt schwarz. Ihre Füße stehen auf einem Holzstövchen. Darin glüht in einem Tongefäß ein Brikett. Im Lehnstuhl am Fenster sitzt der gebrechliche Urgroßvater. Er hat eine Tasse Tee vor sich auf dem Tisch stehen.
Das Fenster geht zur Straße hinaus. Die Fenster der Vorderseite gehören zum Gesicht des Hauses. Sie sind größer als hinteren Fenster und haben Fensterläden. Diese sind noch nicht geschlossen. Auf der schmalen Fensterbank steht ein Topf mit Alpenveilchen.
Ich gehe wieder in den Flur. Dort befindet sich im Fußboden eine Luke. Sie liegt an der Wand zum zweiten Vorderzimmer. Sie ist zweigeteilt. Ein großer quadratischer Teil reicht in die Dielen. Ein schmaler rechteckiger ist in die Wand eingelassen. Die beiden Teile sind mit Scharnieren verbunden. Ich klappe das Wandteil auf das Bodenteil. Jetzt liegt die Aussparung in der Wand frei. Ich stelle das Bodenteil senkrecht nach oben. Die massiven Holzteile sind schwer. Vier Stufen führen in den Keller. Ich ducke mich hinein und verharre gebückt. Ich rieche die Kartoffeln. Eigens für dieses Kartoffellager ist ein Teil des zweiten Vorderzimmers unterkellert worden. Sonst ist das Haus ebenerdig gebaut. Die Kartoffeln liegen bis vor meine Füße. In einem schiefen Regal stehen Einmachgläser mit Bohnen, mit Fleisch, mit Erdbeeren und mit Stachelbeeren. Durch das niedrige Kellerfenster werden im Herbst die Kartoffeln geschüttet. Jetzt ist es geschlossen. Ratten, Mäuse und Regen sollen nicht hereinkommen. Ich steige wieder hinauf und schließe die Luke.
Drei Stufen führen hoch zum zweiten Vorderzimmer. Hier steht das alte Bett der Großeltern mit den hochgewölbten Federbetten. Der Raum kann nicht beheizt werden.
Die vorletzte Tür führt in die Schlafkammer der Söhne.
Durch die letzte Tür verlasse ich den vorderen Flur und trete in den hinteren. Hier führt eine steile Treppe nach oben. Ich steige hinauf. Stütze mich mit einer Hand an der Wand ab. Drücke mit der anderen und mit dem Kopf die Falltür zum Dachboden hoch. Oben ist ein Ziegelstein festgebunden. Sein Gewicht zieht über eine Schnur die Luke mit auf. Steht diese senkrecht, baumelt der Stein dicht über dem Boden. Ich trete auf den Dachboden. Rechts liegen die Winteräpfel auf den Dielen, daneben die Schalotten. Leinensäckchen hängen am Dachbalken. In ihnen werden Dicke Bohnen, getrocknete Bohnen und Erbsen aufbewahrt. Dahinter stehen zwei große bauchige Flaschen aus grünem Glas. Eine mit Johannisbeerlikör. Die andere mit Kirschlikör.
Hinten auf dem Dachboden ist ein Verschlag gezimmert worden. Aus dünnen Brettern wurde ein niedriges Zimmerchen zusammengenagelt. Ich öffne die Tür. Sie ist leicht wie eine Attrappe. Ich bücke mich hinein. Am Giebelfenster steht ein schmales Bett. Daneben passt noch eine kleine Kommode. Hier schläft die Tochter, seit sie nicht mehr mit ihren älteren Brüdern in einem Raum schlafen kann. Bald wird sie schwanger werden und in diesem Kämmerchen das Kind zur Welt bringen. Hier wird sie mit dem Neugeborenen für ein weiteres Jahr schlafen. Tagsüber wird sie in eine kleine Fabrik arbeiten gehen. Sie wird mit dem Bus dorthin fahren. Der Säugling wird von den Großeltern versorgt werden. Einmal in der Woche wird der Ofen in der Küche besonders gut eingeheizt. Auf den Küchentisch wird ein Wännchen gestellt und mit lauwarmen Wasser gefüllt. Erst dann geht der Großvater die Urgroßeltern holen. Sie setzen sich auf die Küchenbank an den Tisch. Der Säugling wird ausgezogen und in das Wännchen gehoben. Immer, wenn das Kleine gebadet wird, möchten die Alten dabei sein. Und sie sitzen und sie blicken auf das nun nackte Kind. Auf dem Acker, so werden sie später der Urenkelin erzählen, auf dem Acker waren sie ihr Leben lang wie Sklaven. Aber jetzt am Ende ihres Lebens sehen sie dieses zarte schöne Geschöpf und ihre Augen leuchten vor Glückseligkeit.
Ich verlasse den Dachboden.
Unten im Flur trete ich neben die Treppe. Mit der Wand bildet sie einen Winkel. Und diesen Winkel füllt ein Kabuff. Auch dieser kleine Freiraum steht voll mit Einmachgläsern.
Ich betrete die Küche der Großeltern. Hier brennt der Ofen nicht so stark wie in der Küche der Urgroßeltern. Die Fenster sind klein und niedrig. Vor einem dieser Fenster steht der Lehnstuhl. Darin sitzt der Großvater. Daneben steht ein Tisch. Hinter dem Tisch die Holzbank. Davor Stühle und an der Wand ein Schrank. Auf dem Herd brodelt Suppe in einem großen Topf.
Ich verlasse das Haus durch eine der Hintertüren und gehe zum Schuppen. Ein rotes Backsteinhäuschen fünf Schritte vom Haus entfernt. Im Schuppen trete ich vor den mächtigen verzinkten Kessel zum Wäschewaschen und zum Einkochen. Hinter dem Kessel verläuft die Abflussrinne des Schweineverschlags. Daneben ist noch Platz für die Eierkohlen, die Schubkarre und einen Heuballen. Vor mir hängen an der Wand zwei Spaten, eine große Holzharke, Hacken und die Mistgabeln. Im Schuppen ist auch der Platz für das Plumsklo. Hinter dem Schuppen befindet sich der Misthaufen. Der rechte und der linke Ackerstreifen führen an den Längsseiten des Backsteinhäuschens vorbei. Zwischen den drei Teilen des Ackers verlaufen Graswege. Der ganze Acker ist mit dem Spaten umgegraben worden. In schwarz glänzenden Schollen liegt der Kleiboden bereit für den Winter.
Am Rande des Ackers stehen drei kleine Obstbäume.
Zwischen zwei Eisenpfosten hängt eine dicke brüchige Nylonleine. Auf einer Seite stecken lange Holzklammern. Daneben ist eine Metallschiene in den Boden eingelassen. Hier streifen die Großeltern ihre Holzschuhe ab, wenn sie vom Acker kommen. Am Ende des Ackers begrenzt ein Entwässerungsgraben das Grundstück. Die Großeltern müssen ihn überqueren, wenn sie zum Großbauern arbeiten gehen. Dessen Anwesen erhebt sich in der Ferne. Dahinter liegt der Deich. Bei klarer Sicht ist über das Wasser der Bucht hinweg die Silhouette einer Hafenstadt zu sehen.
Auf der einen Seite des Ackers führt ein Graben bis zur Straße. In dem Graben steht fast immer Wasser. Im Garten wachsen drei Reihen Erdbeeren. Davor zwei Sträucher mit schwarzen Johannisbeeren und zwei Stachelbeerbüsche. Im niedrigen Gras stehen drei Apfelbäume und zwei krumme Pflaumenbäume. Das niedrige Gras ist die Bleichwiese. Im Sommer werden hier die Bettlaken ausgelegt, damit die Sonne den grauen Schleier von der Wäsche nimmt.
Im Frühjahr blühen einige wenige Tulpen.
Die Landstraße liegt höher als das Grundstück. Sie verläuft auf dem ehemaligen Deich. Ich gehe ein paar Meter über ihre rotgepflasterte Fahrbahn. Auf der anderen Seite der Straße sehe ich die Dächer von niedrigen Häuschen. Auch diese liegen hinter dem ehemaligen Deich und deshalb tiefer als die jetzige Landstraße. Hinter ihnen verläuft ein Kanal. Kleine Boote sind an Stege gebunden. Mit ihnen fahren die Männer zu den Aalreusen.
Ginge ich weiter die Straße entlang, so würde ich an den Bäckern, dem Müller, den Schneidern, den Kolonialwarenhändlern, den Schustern, den Malern, dem Kohlenhändler vorbeikommen.
Aber ich gehe zurück. Die Suppe ist fertig.
Der Tisch ist gedeckt. Auf dem Wachstuch stehen acht tiefe Teller. Ihre Glasur ist vergilbt und hat Sprünge. Drei Teller haben eine abgeschlagene Stelle. Daneben liegen große Löffel. Der Großvater sitzt im Lehnstuhl. Die Großmutter rührt in dem Topf mit Bohnensuppe.
Die Küchenuhr schlägt zwölf Mal.
Die beiden erwachsenen noch ledigen Söhne kommen herein. Sie grüßen mit einem Wort. Einer setzt sich auf die Bank. Der andere auf den Stuhl. Dann erscheint die Tochter. Sie ist Lehrmädchen beim Schuster. In einem Jahr wird sie schwanger werden und heiraten müssen. Die Großmutter will kein Vorkind. Die Tochter setzt sich ebenfalls auf die Bank.
Der dritte Platz auf der Bank ist für mich.
Das Schlurfen der Pantoffeln der Urgroßmutter und das Aufschlagen des Handstocks des Urgroßvaters sind aus dem Flur zu hören. Die tief gebeugten Alten treten ein. Sie setzen sich auf die Stühle neben den Enkeln.
Die Großmutter rührt noch einmal um. Dann greift sie nach dem Teller des Großvaters und füllt ihn. Als nächstes nimmt sie den Teller der Urgroßmutter. Dann den des Urgroßvaters. Dann die der Söhne. Dann den der Tochter. Dann meinen Teller und zuletzt ihren.
Sie setzt sich. Der Großvater spricht das kurze Gebet. Alle murmeln Amen. Die Söhne greifen als erste nach den Löffeln. Sie essen hastig. Ihre Köpfe sind gesenkt. Die Tochter isst gleichmäßig und langsam. Sie hebt den Blick ab und zu zur Urgroßmutter. Diese sitzt ihr gegenüber. Die Hand der Urgroßmutter zittert. Die Bohnen bleiben ihr auf dem Löffel liegen. Aber viel Brühe schwappt wieder herunter. Führt sie den Löffel in ihren fast zahnlosen Mund, rinnt ein wenig Suppe aus den Mundwinkeln über das Kinn. Ab und zu wischt sie mit dem Ärmel über ihre Lippen. Zwischen den Schlucken erwidert sie den Blick der Enkelin.
Die Hand des Urgroßvaters zittert ebenfalls. Er hält den Kopf tief über den Teller gesenkt. So braucht er die Hand kaum zu heben und verliert wenig Suppe. Diese wenige Brühe läuft aus seinen Mundwinkeln, rinnt durch die grauen Bartstoppeln zum Kinn und fällt zurück auf seinen Teller oder tropft auf sein Hemd.
Der Großvater streut aus der Pfefferdose Pfeffer nach. Dann rührt er die Suppe noch einmal um und beginnt zu essen. Er sitzt gerade.
Auch ich gebe Pfeffer hinzu.
Die Fenster sind jetzt beschlagen. An einigen Stellen läuft das Wasser herunter. Die Gesichter der Menschen sind gerötet.
Die Großmutter isst hastig. Sie sieht immer auf die Teller der anderen. Vor allem auf die Teller der Söhne neben sich. Der erste dieser beiden legt den Löffel aus der Hand. Hebt den Kopf und wendet ihn in ihre Richtung. Ihr Teller ist noch fast voll. Sie steht auf. Greift nach dem Teller ihres Sohnes, geht zum Ofen und füllt den Teller. Unruhig setzt sie sich wieder. Erst als sie auch den Teller des anderen Sohnes zum zweiten Mal gefüllt hat, isst sie ruhiger weiter.
Der Teller des Großvaters ist leer. Seine Frau füllt nach.
Ihre Tochter steht auf und geht zum Ofen. Hält den Topf schräg. Die Kelle kratzt über den Topfboden. Die Tochter nimmt sich wenig Suppe. Sie sagt etwas zur Urgroßmutter. Diese schüttelt den Kopf. Der Urgroßvater hält seinen Teller schräg. Alle Bohnen hat er bereits gegessen.
Die beiden Söhne haben leere Teller vor sich. Die Großmutter sagt etwas. Sie steht auf und holt den Blechtopf vom Ofen. In den Teller des einen Sohnes kippt sie den Rest. Der isst jetzt weiter. Der andere sagt etwas zum Großvater. Dieser nickt ihm zu.
Der Urgroßvater lässt seinen Löffel auf den leeren Teller fallen. Er lehnt sich zurück und schleckt sich mit der Zunge über die Unterlippe. Er wendet seiner Frau das Gesicht zu und sagt etwas zu ihr. Sie sieht ihn an und greift mit einer Hand in die schwarze Kittelschürze. Sie holt ein Taschentuch hervor und wischt ihm damit einen Tropfen Suppe vom Kinn.
Die beiden Söhne stehen auf und verlassen mit kurzem Gruß die Küche. Die Tochter räumt die Teller zusammen. Der Großvater dreht sich eine Zigarette. Die Großmutter holt die Plastikschüssel zum Abwaschen. Die Urgroßmutter steht langsam auf und spricht dabei mit der Großmutter. Die Großmutter hilft dem alten Mann beim Aufstehen. Sie greift ihm unter die Arme und drückt ihm seinen Stock in die Hand. Er humpelt zur Tür. Die Urgroßmutter schlurft hinterher.
Ich gehe in den Garten.
Dort hole ich mir einen der letzten Äpfel vom Baum und setze mich ins Gras.
Es ist kühl.
Es ist Herbst.
Ich beiße in den Apfel. Ich kaue langsam.
Der Herbstwind jagt die Wolken. Früher habe ich in den Wolkenformen Gestalten gesehen. Menschen. Tiere. Ungeheuer.
Früher mochte ich die schwarzen Johannisbeeren nicht essen.
Ich gehe zu einem der Hintereingänge und verschließe das dunkle leere kalte Haus. Dann gehe ich zum Schuppen. Dort habe ich das geliehene Fahrrad abgestellt.
Ich fahre zurück.